Um den Verfassungsentstehungsprozess und die handelnden Personen besser zu verstehen und einordnen zu können, habe ich bis jetzt wissenschaftliche Arbeiten über die politischen Strömungen und die Machttheorie durchgelesen. Als Nächstes habe ich mich nun mit den Arbeiten über soziale Bewegungen und Demokratisierung beschäftigt. Dabei bleibt das Ziel zu evaluieren, ob die theoretische Prinzipen der Forschungen zu den Themen Erkenntnisse über den Prozess und die Handlungen der Individuen und Gruppen ermöglichen.
Als Erstes ist es wichtig zu wissen, was man hinter den Begriff soziale Bewegung versteht und wie wir die Idee gegenüber weitere gesellschaftliche Gruppierungen und Handlungen abgrenzt. Hier verwende ich als Ausgangspunkt sollen die Definitionen von Charles Tilly und Sidney Tarrow dienen.
Tilly schreibt, dass…
„… the social movement emerged from an innovative, consequential synthesis of three elements: 1. a sustained, organized public effort making claims on target authorities (…campaign), 2. employment of combinations from among the following forms of political action: creation of special-purpose associations and coalitions, public meetings, solemn procession, vigils, rallies, demonstrations, petition drives, statements to and in public media, and pamphleteering (… social movement repertoire); and 3. participants‘ concerted public representations of WUNC: worthiness, unity, numbers, and commitment on the part of themselves and/or their constituencies (WUNC displays).“
Wichtig hier ist der Dauer der Aktion. Die handelnde Gruppe muss in der Lage sein, über einen längeren Zeitraum die Aktion oder eine Serie von Aktionen durchführen zu können. Die Art der Aktion spielt für Tilly auch eine zentrale Rolle. Es gibt ein Repertoire, das die Gruppe zur Verfügung steht, die öffentlich wirksam ist und ganz wichtig hinter die Aktionen muss ein gemeinsames Ziel stehen, die eine effektive Anzahl von Individuen zusammenbringt und zusammenhält durch die Selbstverpflichtung der Mitglieder.
Tarrow vereinfacht die Beschreibung als das Anstoßen (mounting), Fortführen (maintining) und Koordinierung (coordinating) von Auseinandersetzungen mit einem Gegner, um ein Ziel zu erreichen. Auch hier spielt der Dauer der Auseinandersetzung eine zentrale Rolle.
Was hat das nun mit Demokratisierung zu tun? Sind soziale Bewegungen ein fester Bestandteil von Demokratisierungen (ein sozusagen Voraussetzung)? Die Autoren gehen nicht so weit als zu behaupten, dass soziale Bewegungen eine Voraussetzung für eine Demokratisierung eines Landes zu definieren. Sie sehen aber eine enge Verbindung zwischen die Demokratisierung und soziale Bewegungen. Diese Verbindung hat der Charakter eines Henne-Ei Beziehung. Eine Demokratisierung kann durch eine soziale Bewegung im Gang gesetzt werden, kann aber sein, dass erst durch demokratische Reformen solche Bewegungen erst im Gang kommen bzw. eine Kombination davon.
Wie so oft spielen mehrere Faktoren eine Rolle bei historischen Prozesse. Hier ist es nicht anders. Im Falle der Verfassungsentstehung im Großherzogtum Hessen 1815 bis 1820 gibt es für mich folgende Fragen: können wir aus der Perspektive einer sozialen Bewegung neue Erkenntnisse über die Entstehung aufdecken? Welche Eigenschaften einer sozialen Bewegung sind bei den Akteuren im Verfassungsentstehungsprozess erkennbar? Welche Eigenschaften eines Demokratisierungsprozesses sind in diesem Fall vorhanden und was sagen sie über den Prozess aus?
Markoff schreibt in seiner Arbeit, dass Demokratie und Demokratisierung fließende Begriffe sind, die sich im Laufe der Zeit gewandelt haben. Das, was allgemein in der Forschung heute als Demokratie verstanden wird, die Merkmale, weichen davon ab, was vor zweihundert Jahren mit dem Begriff dargestellt werden soll. Wie der Begriff bzw. Verständnis im Laufe der Zeit sich entwickelt hat, können wir aber Benutzen, um die Verbindung des Verfassungsentstehungsprozesses und Demokratisierung ins Verhältnis zueinander zu bringen. War das Ziel der Verfassungsbefürworter die Demokratisierung des Großherzogtums oder darüber hinaus Deutschlands gewesen? Wenn ja welche Befürworter hatten dieses Ziel und welche Nachweise dafür gibt es?
Auch der geschilderte Umgang der herrschenden Eliten mit Demokratiebewegungen bringt Anhaltspunkte, um das Verhalten des Großherzogs und seiner Familie und Regierung zu verstehen. Darüber hinaus bieten uns die Markoffs transnationaler Eigenschaften von Demokratisierungsprozesse Möglichkeiten externe Einflussfaktoren im Fall der Verfassungsentstehung aus einem anderen Blickwinkel zu betrachten.
Welche Konzepte nicht nur aus der Forschung über soziale Bewegungen und Demokratisierungen aber auch aus der Machttheorie und Forschungserkenntnisse zu politische Strömungen stehen uns zur Verfügung. Mein nächster Schritt ist eine Art Katalog zu erstellen, der diese Konzepte enthält und diese als Grundlage für die empirische Quellenanalyse zu verwenden.